Wie europäisch sind die Europawahlen?

Eine EU-Wahl - 27 Wahlsysteme: Über die Bedeutung der „nationalen Nebenwahlen”

Die Europawahlen sind (seit 1976) Direktwahlen, das heißt die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union haben über die Wahl der entsprechenden Kandidierenden-Listen direkten Einfluss darauf, welche Abgeordneten künftig im Europäischen Parlament sitzen werden. Auch die Bedeutung des Europäischen Parlaments ist gestiegen. Dieser größere Stellenwert zeigt sich auch darin, dass das Europäische Parlament inzwischen in vielen Bereichen gleichberechtigt mit dem Ministerrat über europäische Gesetze und den EU-Haushalt entscheidet.

So würde man annehmen, dass auch die Wahlen zum Europäischen Parlament an Bedeutung hinzugewinnen. Dem ist jedoch nicht so. Die Europawahlen verzeichnen seit jeher eine relativ geringe Wahlbeteiligung im Vergleich zu nationalen Wahlen, nicht zuletzt, da die Europawahlen als „nationale Nebenwahlen” angesehen werden. Wie ist dieser geringen Wahlbeteiligung entgegenzuwirken? Sind die Europawahlen nicht europäisch und demokratisch genug? Ist das Wahlsystem in den 27 EU-Staaten zu ungleich? Ist die Europawahl insofern doch keine für die Bürgerinnen und Bürger spürbare Direktwahl, die ihnen glaubhaft machen würde, dass ihre Stimme tatsächlich zählt?

Der vorliegende Beitrag geht diesen Fragen nach und skizziert Veränderungen und Reformideen. Hierzu geht er auf das Wahlrecht, die Europawahlprogramme und die Wählerschaft gleichermaßen ein. Das Europäische Parlament hat 2022 eine umfassende Reform der Europawahlen vorgeschlagen und eingeleitet, welche aus 27 nationalen Wahlen mit unterschiedlichen Regeln eine einheitliche Europawahl in allen Mitgliedsländern machen soll, so etwa in Bezug auf das Wahlalter, den Wahltag, die Sperrklausel, die Einführung eines Zweiststimmensystems sowie eines verbindlichen Spitzenkandidatenprinzips. Der Beitrag versucht, einen Überblick über das geltende Wahlsystem zu geben und zentrale Veränderungsmöglichkeiten in dieser Hinsicht aufzuzeigen.

Im Anschluss an die vielzitierte Studie von Reif/Schmitt (1980) zeigten zahlreiche Forschungsarbeiten auf, dass es sich bei den Europawahlen um weniger wichtige Wahlen, so genannte „nationale Nebenwahlen“ handelt, weil weniger auf dem Spiel steht als bei nationalen Hauptwahlen. Dennoch haben sich die Wahlen seit ihrer Einführung durchaus verändert. Waren bei der ersten Direktwahl noch 184 Millionen Bürgerinnen und Bürger in neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt, werden es bei der zehnten Wahl rund 350 Millionen Wahlberechtigte in mittlerweile 27 Ländern der EU sein. Erhöht hat sich auch die Zahl der Parlamentarier, wenn auch nicht proportional zur Bevölkerung: 1979 zählte das Parlament noch 410 Abgeordnete, bei der Wahl im Juni 2024 werden 720 Abgeordnete gewählt. 96 Mandate entfallen dabei auf Deutschland. Neben diesen rein quantitativen Veränderungen, spielen auch noch weitere eine Rolle.

Autor:innen: Prof. Dr. Daniela Braun, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europäische Integration und Internationale Beziehungen, Universität des Saarlandes und Prof. Dr. Markus Tausendpfund, Professor an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen.

Die historischen Wurzeln des Europäischen Parlaments

Die historischen Wurzeln des EP liegen in der „Gemeinsamen Versammlung“, dem Abgeordnetengremium der im April 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Diese „Gemeinsame Versammlung“ konstituierte sich im September 1952 in Straßburg. Ihre 78 Mitglieder galten als „Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ und wurden von den Parlamenten der sechs Gründungsmitglieder der EGKS entsandt. Nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) 1957 wurde die „Gemeinsame Versammlung“ der EGKS auf alle drei Gemeinschaften erweit.

Bereits die Gründungsverträge dieser Gemeinschaften sahen die allgemeine und unmittelbare Wahl der Mitglieder des EP nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten vor. Der Ministerrat erließ allerdings erst 1976 den Rechtsakt über die Einführung allgemeiner und direkter Wahlen, sodass erstmals 1979 die Abgeord-neten des EP von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt werden konnten.

Die Unterschiede im Wahlsystem

„Die Europawahlen finden grundsätzlich nach so vielen Wahlsystemen statt wie Mitgliedstaaten ihre Abgeordneten direkt wählen.“

Ein einheitliches Verfahren für die Wahl zum EP existiert bis heute jedoch nicht. Seit 1979 ist das Wahlrecht im Wesent- lichen national geregelt, nur einige Eckpunkte wurden in bisherigen Gemeinschaftsverträgen festgeschrieben. Erst 2002 hat der Rat der EU das Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen für die Wahlen zum EP verbindlich festgelegt. Trotz dieser ersten Ansätze eines einheitlichen Verfahrens finden die Europawahlen grundsätzlich nach so vielen Wahlsystemen statt wie Mitgliedstaaten ihre Abgeordneten direkt wählen, weshalb Dieter Nohlen (2004) von einem „polymorphen Wahlsystem“ spricht.In Abbildung 3 sind ausgewählte nationale Bestimmungen der Europawahl 2019 dokumentiert (zur Wahl 2024 siehe weiter unten). Die Wahl des EP findet zwar in allen Ländern in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl statt, aber die Europawahlen entsprechen nicht dem Grundsatz einer gleichen Wahl, wonach jede Stimme das gleiche Gewicht haben muss. Durch die in den Verträgen festgelegte Mandatsanzahl wird dieser Grundsatz verletzt. Das politisch gewollte Missverhältnis der Zahl der Wahlberechtigten und der Anzahl der (nationalen) Abgeord neten führt zu einer Unterrepräsentation der bevölkerungsreicheren und einer Überrepräsentation der bevölkerungsärmeren Staaten im EP (siehe Abbildung 2). Dies wird mit dem Begriffspaar „degressiv proportional“ beschrieben, wonach jeder Mitgliedstaat mit mindestens sechs Abgeordneten, aber höchstens 96 Sitzen im Parlament vertreten ist (siehe „Vertrag über die Europäische Union“, Artikel 14).

Aufgrund der demografischen Veränderungen hat das EP im Juni 2023, ein Jahr vor der Europawahl, vorgeschlagen, die Zahl der Abgeordneten bei der Wahl 2024 zu erhöhen. Im September 2023 hat man sich im EU-Rat darauf geeinigt, die Gesamtsitzzahl der Sitze im Europäischen Parlament von aktuell 705 Sitzen auf 720 Sitze aufzustocken. Zwei zusätzliche Sitze erhielten Frankreich, die Niederlande und Spanien. Je ein Sitz mehr erhielten Belgien, Dänemark, Finnland, Irland, Lettland, Österreich, Polen, die Slowakei und Slowenien.

Die nationalen Wahlbestimmungen bei der Europawahl 2019 variierten etwa hinsichtlich des Wahltermins, der Pflicht der Stimmenabgabe, der Anwendung gesetzlicher Sperrklauseln oder auch des Alters für das passive und aktive Wahlrecht (siehe Abbildung 3). In den meisten Ländern finden Wahlen traditionell an einem Sonntag statt, in den Niederlanden wird beispielsweise aber am Donnerstag gewählt. In fünf Mitgliedstaaten – Belgien, Bulgarien, Griechenland, Luxemburg und Zypern – war die Stimmabgabe gesetzlich vorgeschrieben (Wahlpflicht). Das aktive Wahlrecht lag in Österreich und Malta bei 16 Jahren, in Griechenland bei 17 und in allen anderen EU-Staaten bei 18 Jahren. Das Mindestalter für das passive Wahlrecht lag zwischen 18 und 25 Jahren.

„Die Europawahlen entsprechen nicht dem Grundsatz einer gleichen Wahl.“

Abb. 3: Nationale Bestimmungen bei der Europawahl 2019

Land Mandate Wahltag Wahlpflicht Sperrklausel in % Mindestalter aktiv/passiv
Belgien 21 Sonntag (9.6.) Ja 5 16/21
Bulgarien 17 Sonntag (?) Ja Keine 18/21
Dänemark 14 Sonntag (9.6.) Nein Keine 18/18
Deutschland 96 Sonntag (9.6.) Nein Keine 16/18
Estland 7 Sonntag (9.6.) Nein Keine 18/21
Finnland 14 Sonntag (9.6.) Nein Keine 18/18
Frankreich 79 Sonntag (9.6.) Nein 5 18/18
Griechenland 21 Sonntag (9.6.) Ja 3 17/25
Irland 13 Freitag (?) Neiin Keine 18/21
Italien 76 Sa + So (8.+9..6.) Nein 4 18/25
Kroatien 12 Sonntag (9.6.) Nein 5 18/18
Lettland 8 Samstag (8.6.) Nein 5 18/21
Litauen 11 Sonntag (9.6.) Nein 5 18/21
Luxemburg 6 Sonntag (9.6.) Ja Keine 18/18
Malta 6 Samstag (8.6.) Nein Keine 16/18
Niederlande 29 Donnerstag (6.6.) Nein Keine 18/18
Österreich 19 Sonntag (9.6.) Nein 4 16/18
Polen 52 Sonntag (?) Nein 5 18/21
Portugal 21 Sonntag (?) Nein Keine 18/18
Rumänien 33 Sonntag (9.6.) Nein 5 18/23
Schweden 21 Sonntag (9.6.) Nein 4 18/18
Slowakei 14 Samstag (8.6.) Nein 5 18/21
Slowenien 8 Sonntag (9.6.) Nein Keine 18/18
Spanien 59 Sonntag (9.6.) Nein Keine 18/18
Tschechische Republik 21 Fr + Sa (7.+8.) Nein 5 18/21
Ungarn 21 Sonntag (9.6.) Nein 5 18/18
Zypern 6 Sonntag (9.6.) Ja 1,8 18/21

Mit Blick auf die kommende, zehnte Europawahl vom 6. bis 9. Juni 2024 zeichnen sich in einigen Ländern zwar Veränderungen ab, aber eine Vereinheitlichung der nationalen Wahlbestimmungen ist nicht zu erwarten. In Deutschland wird beispielsweise das aktive Wahlrecht von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt, sodass sich der Kreis der Wahlberechtigten vergrößern wird. Mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit haben der Bundestag im Juni 2023 und der Bundesrat im Juli 2023 auch den Direktwahlakt 2018 ratifiziert, der unter anderem die Einführung einer Sperrklausel von zwei Prozent für den Einzug in das Europäische Parlament vorsieht. Diese Änderung wird voraussichtlich – wenn überhaupt – aber erst ab der Wahl 2029 greifen. Möglicherweise wird sich auch das Bundesverfassungsgericht mit der Sperrklausel befassen. Bereits zweimal – 2011 und 2014 – hat das Karlsruher Gericht solche Mindesthürden für die Europawahl in Deutschland abgelehnt, da – im Vergleich zum nationalen Parlament – das EP keine Regierung trage.

Bereits im Mai 2022 hatte das EP eine umfassende Reform der Europawahlen eingeleitet, die aus 27 nationalen Wahlen mit unterschiedlichen Regeln eine einheitliche Europawahl in allen Mitgliedsländern machen soll. Um die Wahl einheitlicher zu gestalten, soll nach dem Willen des EP der 9. Mai (Europatag) als europaweiter Wahltag festgelegt werden, das passive Wahlrecht ab 18 Jahren in allen Staaten gelten und eine verbindliche Sperrklausel von 3,5 Prozent für Wahlkreise eingeführt werden, in denen mindestens 60 Sitze vergeben werden. Zudem schlägt das Parlament ein Zweistimmensystem vor: eine Stimme für die Wahl der Abgeordneten in den Wahlkreisen der Mitgliedstaaten und eine weitere Stimme für einen EU weiten Wahlkreis, in dem 28 zusätzliche Sitze auf der Basis EU-weiter Kandidatenlisten vergeben werden. Zwar hat das EP ein formales Initiativrecht bei der Gestaltung des Europawahlakts, der dann vom Rat der EU beraten und angenommen wird. Der dem EP zur Abstimmung vorgelegte Text muss allerdings auch von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. In mehreren Mitgliedsländern zeigen sich erhebliche Widerstände gegen einzelne Vorschläge (z. B. Wahltag, Zweistimmensystem), sodass einheitliche Wahlregeln in allen Mitgliedsländern derzeit nicht absehbar sind. Demzufolge wird auch die Europawahl 2024 nach so vielen Wahlsystemen stattfinden, wie Mitgliedsländer ihre Abgeordneten direkt wählen.

Demokratiedefizit in der EU

Wenn von einem Demokratiedefizit in der EU die Rede ist, geht es zumeist um das Wahlsystem und die daran geknüpfte Kompetenzverteilung zwischen den gewählten bzw. nicht gewählten Institutionen. Konkret wird kritisiert, dass

  • es in der EU kein gleiches Stimmrecht gibt (vgl.Abbildung 2)
  • einige Politikbereiche ausschließliche Angelegenheit des Rates bleiben, d. h. das direkt demokratisch legitimierte Parlament höchstens das Recht auf Anhörung hat.
  • dass die Politik der EU durch die Verträge v. a. wirtschaftspolitisch soweit festgelegt ist, dass ein politischer Richtungswechsel nur schwer durchzusetzen ist.

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, bearbeitet

Wie europäisch sind die Wahlprogramme?

Um zu erfassen, ob bei Europawahlen primär europapolitische Themen im Mittelpunkt stehen, ist es wesentlich, die Parteien genauer in den Blick zu nehmen. Aus diesem Grund werden wir uns zunächst mit den thematischen Schwerpunktsetzungen der Parteien bei den bisherigen Europawahlen (1979-2019) beschäftigen, um schließlich auf neuere Entwicklungen – das Spitzenkandidatensystem sowie transnationale Parteien und Listen – einzugehen.

Parteien sind die wesentlichen politischen Akteure bei den Europawahlen. Allerdings ist die Definition von Parteien in Mehrebenensystemen im Vergleich zur nationalen Ebene schwieriger, da wir drei Erscheinungsformen unterscheiden müssen: die transnationalen Parteienbündnisse auf europäischer Ebene, die Fraktionen im EP und die nationalen Parteien. Letztere sind die Hauptakteure bei Europawahlen, da sie alle wesentlichen Funktionen übernehmen. Sie stellen die Europawahlprogramme und die Kandidatenlisten auf, organisieren den Wahlkampf, werden von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt und schließen sich in unterschiedlichen europaweiten Fraktionen im EP zusammen, um dort an der Gesetzgebung und Kontrolle auf europäischer Ebene mitzuwirken. Seit den EP-Wahlen 2014 spielen auch die transnationalen Parteienbündnisse auf europäischer Ebene eine nicht ganz unwesentliche Rolle, da sie die europaweiten Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten bestimmen. Die EP-Fraktionen stellen schließlich das Ergebnis der Europawahlen dar.

Vor dem Hintergrund des eingangs beschriebenen Nebenwahlcharakters der Europawahlen wird in der Forschungsliteratur häufig argumentiert, dass europapolitische Themen bei EP-Wahlen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Allerdings zeigen neuere empirische Studien, die europapolitische Themen differenzierter konzeptualisieren, dass europäische Themen keineswegs eine so geringfügige Rolle spielen wie weithin angenommen (Braun 2021; Braun et al. 2016). Um nun exemplarisch aufzuzeigen, wie präsent das Thema „Europa“ in den deutschen Europawahlkämpfen der Vergangenheit war, werden im Folgenden die Daten des Euromanifesto-Projekts (Carteny et al. 2023) verwendet. Dieser Datensatz verfügt über die codierten Inhalte der Wahlprogramme (die sogenannten Euromanifestos) derjenigen Parteien, die bei den Wahlen zum EP von 1979 bis 2019 antraten.

In der Ergebnisdarstellung wird jeweils zwischen nationalstaatlichen und europapolitischen Themen unterschieden. Zwei Beispiele sollen die Kategorisierung verdeutlichen: Der Satz „Die EU übernimmt die Führung im Kampf gegen den Klimawandel“ würde als europapolitisches Thema kategorisiert werden. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Satz „Wir setzen uns für die Aufforstung des Schwarzwaldes ein“ eindeutig auf die nationale Politik und würde entsprechend eingruppiert. Zusätzlich wird zwischen zwei wesentlichen Typen europäischer Themen unterschieden. Europaspezifische polity-Themen beinhalten die zentralen Elemente des politischen Systems der EU, wie die Kompetenzen der europäischen Institutionen, Entscheidungsregeln, Mitgliedschaftsaspekte und Fragen der Legitimität der EU. Europaspezifische policy-Themen beschäftigen sich hingegen mit konkreten Politikinhalten auf europäischer Ebene. Die Variablen, die sich daraus ergeben, sind jeweils die Summen der positiven und negativen Äußerungen zu den entsprechenden Themen, wobei der prozentuale Anteil im Verhältnis zu allen codierten Quasisätzen im Wahlprogramm berechnet wird.

Abbildung 4 zeigt, mit welcher Häufigkeit in den deutschen Europawahlkämpfen in der Vergangenheit auf nationale und europäische Aspekte eingegangen wurde. Dabei lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens ist eindeutig erkennbar, dass die Wahlprogramme in Deutschland seit 1979 bis zu den Wahlen im Jahr 2019 sehr stark von konkreten Politikinhalten geprägt waren, die eindeutig der europäischen Ebene zugeordnet werden können. In diesem Zusammenhang gibt es keine wesentlichen Veränderungen, mit der Ausnahme, dass europapolitische policy-Themen bis 1989 etwas an Bedeutung zunahmen, um im Anschluss daran wieder zurückzugehen. Zweitens fällt auf, dass in den ersten beiden Wahlen nationale Themen für die Grünen sowie die SPD wichtiger waren, wohingegen in aktuelleren Wahlen die AfD sowie die CDU ihren Schwerpunkt stärker auf nationalstaatliche Aspekte legten. Der dritte interessante Befund betrifft das Verhältnis von europabezogenen und nationalen Themen: Die Daten zeigen eindeutig, dass in den Wahlprogrammen zur EP-Wahl europäische Inhalte durchweg mehr Raum einnehmen als nationalstaatliche Themen. Ob diese Beobachtung gleichermaßen für den Wahlkampf selbst gilt, kann anhand der vorliegenden Daten nicht geklärt werden, da hierfür die öffentliche Debatte beziehungsweise die mediale Berichterstattung in den Blick genommen werden müsste. Dennoch ist festzustellen, dass sich ein nicht unwesentlicher Teil des Europawahlkampfs – nämlich die Wahlprogramme – eindeutig mit Europafragen beschäftigt.

Insgesamt zeigen die vorliegenden Ergebnisse somit zumindest für den deutschen Fall, dass die Europawahlen durchaus als europäisch interpretiert werden können. Dennoch werden sie insbesondere seitens der Bevölkerung durchaus als weniger wichtig wahrgenommen, was sich u. a. in der mangelnden Beteiligung bei diesen Wahlen ausdrückt (s. u.). Aus diesem Grund wurden in der jüngeren Vergangenheit Maßnahmen ergriffen, um die Europawahlen in der Bevölkerung sichtbarer zu machen. Eine dieser Maßnahmen war die Einführung des sogenannten Spitzenkandidatensystems. Zum zweiten Mal nach 2014 nominierten die europäischen Parteienbündnisse bei den EP- Wahlen 2019 europaweite Spitzenkandidaten.

Die Sichtbarkeit dieses europäischen Spitzenpersonals im Europawahlkampf war, auch in der medialen Berichterstattung, sowohl 2014 als auch 2019 vergleichsweise gering. In verstärkter Weise sichtbar waren lediglich europäische Spitzenkandidaten in ihren jeweiligen Heimatstaaten – beispielsweise Jean-Claude Juncker 2014 in Luxemburg sowie Martin Schulz 2014 und Manfred Weber 2019 jeweils in Deutschland. Bei letzterem ergab sich die zusätzliche Besonderheit, dass er Mitglied der CSU ist, jedoch von CDU und CSU gleichermaßen unterstützt wurde. Insbesondere in Bayern war er als europaweiter Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), der für die bayerische Bevölkerung über die Liste der CSU auch direkt wählbar war, im Europawahlkampf durchaus präsent. Das zeigte sich beispielsweise auf den CSU-Wahlplakaten, die stark in seine Richtung personalisiert waren. Bereits außerhalb Bayerns war eine solche Personalisierung der CDU-Wahlkampagne nicht mehr zu beobachten.

Ähnliches gilt für die europaweiten Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten der anderen Parteien. Sichtbar werden die Spitzenkandidaten somit nur dann, wenn sie aus dem eigenen Land und – wie im Falle Webers – aus der eigenen Region beziehungsweise Partei stammen. Eine wesentliche Begründung hierfür liegt in der nationalen Logik des Wettbewerbs bei Europawahlen, denen die nationalen Parteien als Hauptakteure unterworfen sind (Braun/Popa 2018; Braun/Schwarzbözl 2019): Parteien sind primär an Wählerstimmen interessiert. Da bei den Europawahlen die nationalen Bevölkerungen nationale Parteien wählen (d. h. wir in Deutschland wählen beispiels- weise die SPD oder die FDP, nicht jedoch die europäische sozialdemokratische oder liberale Parteigruppierung PES oder ALDE), setzen diese im Wahlkampf eher auf ihre nationalen und nicht auf die europaweiten Spitzenkandidaten.

„Transnationale Parteienbündnisse [spielen] auf europäischer Ebene eine nicht ganz unwesentliche Rolle, da sie die europaweiten
Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten bestimmen.“

Das europaweite Spitzenkandidatensystem scheint somit eher ungeeignet, um die Sichtbarkeit der Europawahlen zu erhöhen, weshalb seit einiger Zeit über den Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bezüglich einer Einführung transnationaler Listen diskutiert wird. Es wird angenommen, dass solche transnationalen Listen in Kombination mit dem europaweiten Spitzenkandidatensystem besser dazu geeignet sind, den gewünschten Effekt von für die Öffentlichkeit sichtbareren und wahrhaftig europäischen Wettbewerben zu erzielen. Da jedoch transnationale Listen auch in den Europawahlen 2024 wahrscheinlich nicht eingeführt werden, weil hierfür die Mehrheit der Mitgliedstaaten die Zustimmung verweigert, bleibt die Frage, ob zumindest die transnationalen Parteien Volt und DiEM25 die kommenden Wahlen in ähnlicher Weise europäischer gestalten, wie dies im Jahr 2019 der Fall war (Braun 2020). Die beiden zuletzt genannten transnationalen Parteibewegungen traten im Jahr 2019 erstmals in Erscheinung. Ihre wesentlichen Kennzeichen sind ihre explizite transnationale Zielsetzung, die dazu beitragen soll, (a) nationales Denken sowie den nationalen Parteienwettbewerb in Europa und insbesondere bei Europawahlen zu überwinden und (b) allen europäischen Bürgern eine neue Vision für Europa zu bieten. Um die Umsetzung dieser Ziele zu gewährleisten, traten Volt und DiEM 25 bei den Europawahlen 2019 mit jeweils einem einzigen Programm für alle europäischen Mitgliedstaaten im Wahlkampf an.

Wahlbeteiligung als Ausdruck europäischer Wahlen?

Die Einführung der Direktwahl des EP 1976 erfolgte in einer Phase des „Stillstands“ der europäischen Integration. Die direkte Wahl der einzigen durch die Bürgerinnen und Bürger selbst legitimierten politischen Institution der damaligen EG sollte das Gemeinschaftsgefühl stärken und die politische Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses sichern. Mit der Einführung der Direktwahl und durch nachfolgende Vertragsänderungen erhielt das EP einen immer größeren Stellenwert. Inzwischen entscheidet das EP in vielen Bereichen gleichberechtigt mit dem Ministerrat über europäische Gesetze und den EU-Haushalt. Bei der Ernennung des Präsidenten der Europäischen Kommission ist seine Zustimmung erforderlich; zudem kann es der Kommission das Misstrauen aussprechen.

Parallel zu diesem Bedeutungszuwachs würde man auch einen Anstieg der Wahlbeteiligung erwarten. Wie Abbildung 5 aber zeigt, kam es nach der ersten Europawahl 1979 zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung, bei den Wahlen 1999 bis 2014 lag die europaweite Beteiligung unter 50 Prozent. Erst bei der Europawahl 2019 wurde die 50-Prozent-Marke knapp übersprungen. Bereits bei der ersten Europawahl 1979 zeigte sich, dass die Wahlbeteiligung geringer ausfällt als bei nationalen Hauptwahlen, die Regierungsparteien Stimmen verlieren, Oppositionsparteien vergleichsweise gut abschneiden und kleinere Parteien bessere Ergebnisse erzielen. Diese Beobachtungen haben Karlheinz Reif und Hermann Schmitt in der Theorie nationaler Nebenwahlen (second-order election) gebündelt (1980). Europawahlen sind nationale Nebenwahlen, weil es bei diesen Wahlen – zumindest in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger, der Parteien und der Medien – im Vergleich zu nationalen Hauptwahlen „um weniger“ gehe. Die Bürgerinnen und Bürger zeigen im Vergleich zur nationalen Politik ein geringeres Interesse und schätzen die Europapolitik weniger wichtig ein als die Bundespolitik, die Parteien investieren weniger in den Wahlkampf und auch die Berichterstattung in den Medien fällt bei Europawahlen geringer aus als bei nationalen Hauptwahlen (Holtz-Bacha 2021).

Die längsschnittliche Betrachtung der Beteiligung bei Europawahlen versperrt allerdings den Blick auf die erhebliche Variation zwischen den Staaten. Wie Abbildung 6 dokumentiert, war die Beteiligung bei der Europawahl 2019 in Belgien mit 88,5 Prozent am höchsten und mit 22,7 Prozent in der Slowakei am niedrigsten. Die Erklärungsfaktoren für diese nationalen Unterschiede können zum einen der nationalen Ebene (Makroebene) und zum anderen der Individualebene (Mikroebene) zugeordnet werden. Auf der Makroebene haben sich Merkmale des nationalen politischen Systems wie Wahlpflicht, der Sonntag als Wahltag und die Kopplung mit anderen Wahlen als förderliche Faktoren der Wahlbeteiligung erwiesen. Auch eine gesellschaftlich höhere Zustimmung zur EU begünstigt die Wahlbeteiligung (Steinbrecher 2014).

Auf der Mikroebene spielen neben klassischen Bestimmungsfaktoren der Wahlbeteiligung (z. B. Bildung, politisches Interesse, Parteiidentifikation) auch genuin europaspezifische Merkmale für die Erklärung der Wahlbeteiligung eine Rolle. Bei den jüngeren Wahlen haben proeuropäische Einstellungen die individuelle Wahlteilnahme gefördert. Ein größeres Interesse an der Staatengemeinschaft sowie ein größeres Wissen über die EU stehen ebenfalls mit einer höheren Wahlbeteiligung in Beziehung.

Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen variiert aber nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch innerhalb eines Landes. Bei der Europawahl 2019 lag die Beteiligung im Saarland bei 66,4 Prozent, in Sachsen- Anhalt bei lediglich 54,7 Prozent. Ein zentraler Erklärungsfaktor für diese regionalen Unterschiede ist die Kopplung der Europawahlen mit weiteren Wahlen (z. B. Kommunalwahlen, Bürgermeisterwahlen), die zu einer stärkeren Wählermobilisierung führt und sich förderlich auf die Wahlbeteiligung auswirkt.

Analysen der Forschungsgruppe Wahlen deuten allerdings auch darauf hin, dass der Anteil der Personen, die die Entscheidungen des EP für wichtig halten, im Vergleich zur Wahl 2014 deutlich angewachsen ist (von 56 auf 71 Prozent). Auch für das Interesse an der Wahl kann die Forschungsgruppe einen erheblichen Anstieg feststellen (von 40 auf 64 Prozent). Dennoch bleibt die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019 (61,4 Prozent) deutlich unterhalb der Beteiligung bei der Bundestagswahl 2017 (76,2 Prozent) und
der Bundestagswahl 2021 (76,6 Prozent). Mit 14,8 bzw. 15,2 Punkten ist diese Differenz zwar geringer ausgeprägt als bei früheren Wahlen, entspricht aber weiterhin der Bewertung der Europawahl als „Nebenwahl“ oder „Wahl zweiter Ordnung“.

 

Fazit

Ziel dieses Beitrags war es, einen Überblick über das geltende Wahlsystem und zentrale Veränderungen in dieser Hinsicht zu geben, sowie der Frage nachzugehen, ob Europawahlen eigentlich europäische Wahlen sind. In diesem Zusammenhang konnten wir zeigen, dass es kein einheitliches Verfahren für die Wahl zum EP gibt, da das Wahlrecht immer noch sehr stark von den Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten geprägt ist. Auf der anderen Seite sind die Europawahlen in den einzelnen Ländern doch überraschend stark von europäischen Inhalten geprägt. Zumindest in ihren Europawahlprogrammen gehen die Parteien – mit Ausnahme der AfD – primär auf europäische Politikinhalte, aber auch auf das EU-Institutionensystem ein, wohingegen nationale Themenschwerpunkte seltener angesprochen werden. In der deutschen Bevölkerung spielt die Europawahl hingegen weiterhin eine Nebenrolle. Im Vergleich zur Bundestagswahl geben eindeutig weniger Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme ab. Daran hat auch die Einführung des Spitzenkandidatensystems nichts geändert.

Dennoch bleibt es spannend, ob und wenn ja, welche Veränderungen die Europawahlen 2024 mit sich bringen: Werden die europaweiten Spitzenkandidaten diese Wahl prägen und der Wahl zu mehr europäi- scher Sichtbarkeit verhelfen? Werden die Parteien trotz der zunehmenden euroskeptischen Herausforderung weiterhin auf nationale Themensetzungen verzichten und europäische Inhalte fokussieren? Hat die Absenkung des Wahlalters in Deutschland von 18 auf 16 Jahre zur Folge, dass die Wahlbeteiligung steigt, und erhalten Parteien, die junge Menschen ansprechen, mehr Stimmen bei den anstehenden Europawahlen?

Die Literaturhinweise sowie Links findet man auf Moodle.

Dieser Beitrag entstammt der Ausgabe „Europa im Wandel" der Zeitschirift Deutschland & Europa.

LpB-Podcast

POLITISCH BILDET

Europawahl 2024: Sind die Europawahlen europäisch genug?

Im Gespräch mit Prof. Dr. Daniela Braun, Universität des Saarlandes

Die Europawahlen sind mehr als „nationale Nebenwahlen“, auch wenn die Wahl in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf nationaler Ebene geregelt wird. Sind die Wahlverfahren zu ungleich? Ist die Europawahl nicht europäisch genug? Wie lässt sich die Wahlbeteiligung steigern? Und wie könnte sich die Absenkung des Wahlalters in Deutschland auf die Wahl auswirken?
Zu hören auch bei:  Soundcloud, Spotify  und iTunes.
zum LpB-Podcast

#Leichte Sprache: Demokratie und demokratische Entscheidungen: folgt demnächst

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